Phlegmatnigker (Tocotronic – Gehen die Leute)
Eine von mir sehr geschätzte Physiotherapeutin auf Station sagte zu mir: „So langsam wie du gehst, könnte man meinen, du erwartest etwas Schlimmes.“
Das stimmt.
Ich bin ein Langsamgeher. Habe das von meinem Großvater übernommen, der immer sehr gemächlich ging, ein Schritt nach dem anderen, ganz entspannt und ruhig. Der Tag hat 24 Stunden. Es gibt genügend Zeit. Aber halt nicht in einem Krankenhaus.
Langsam muss ich es mir eingestehen. Ich bin phlegmatisch. Früher habe ich mich über diese Langsamkeit, Verpeiltheit, ewige Müdigkeit eines guten Freundes gewundert, doch ich bin nicht anders. In der Arbeit musste und muss ich mir immer anhören, zu langsam zu arbeiten. Meine aktuelle Praxisanleiterin formuliert es höflicher: „Du arbeitest sehr bewusst.“
Wenn ich für Schule oder Studium lerne, müsste ich das Wochen vorher, weil ich lange brauche, neue Dinge zu kapieren, vor allem Dinge, die mich nicht interessieren. Ich bewege mich auch immer langsam. Immer. Auf der Straße werde ich von Rentnern und Kleinwüchsigen überholt. Im Boxen hieß es, man solle nach jeder Runde langsam in die Ringecke gehen, um Kräfte zu sparen und der gegnerischen Ecke nicht zu zeigen, wann man wirklich erschöpft ist. Außerhalb des Ringes zählt das nicht. Wer langsam geht ist schwach. Er kann mit dem Rudel nicht mithalten, kann nicht vor Gefahr flüchten, wird zerfleischt.
Mindestens zwei Jahrzehnte episodischer Depression, die mit massiver Antriebslosigkeit einhergehen, haben mein Gemüt verändert. Früher habe ich mehr geschafft, mehr versucht, war tatenfreudiger, unternehmungslustiger, war künstlerisch aktiver, hatte mehr Output. Heute, mit Endlichkeit konfrontiert und ausbleibender Anerkennung bzw. keinen positiven Auswirkungen meiner Arbeit (die ich – um die Paradoxie zu verdeutlichen – nicht mal veröffentliche), fehlt mir die Motivation. Ich bin immer noch kein gefeierter Superstar. Wieso auch? Meine Outputfrequenz ist nicht stabil genug, es mangelt an Persistenz.
Mir wurde geraten, ressourcenorientierter zu Denken, da ich viel auf dem Kasten hätte. Roger Buscapé Nigk macht alles in nervtötender Langsamkeit. Eine Welt, in der das nicht OK ist, ist nicht die Richtige für mich. Man sagt, hochsensible Menschen haben ein Problem mit zu vielen Reizen und sind schneller überfordert, wenn sie Dinge gleichzeitig machen müssen. Alles vielleicht ein Ausdruck meiner Langsamkeit, ich Sensibelchen.
Fick dich, Dirk.
„Selbstsucht ist zwar eine Grundschwäche aller vier Temperamente, aber der Phlegmatiker dürfte mit der größten Dosis gesegnet sein. Diese Schwäche führt über die Jahre zu Unentschlossenheit, die ihn hinter der Aktivität anderer zurückfallen lässt. Der Preis, den er zu zahlen hat, um etwas zu bekommen oder fertigzustellen, so wie er will, wiegt oft schwerer als sein Wunsch, es zu haben.“
Joyce Meyer, Traum statt Trauma (zitiert nach Wikipedia, „Phlegmatiker“)