Drei Akte und ein Akt
Akt 1
Deinen Schmerz kann ich fühlen oder zumindest sehr gut nachempfinden. Am liebsten würdest du schreien, dass ich das nicht kann und ich würde dir recht geben. Ich will deinen Schmerz gar nicht und lasse ihn nicht an mich ran, außer durch deine Nägel, während du dich, in größtem Verlangen nach Linderung, an mir festklammerst. Vorsichtig und so einfühlsam wie möglich rede ich zu dir. Nach angsterfüllter Abwehr gewährst du mir nach und nach mehr Freiraum in meiner Arbeit, was schön ist. Wir werden zu Verbündeten, deswegen lässt du mich auch wissen, dass du Hepatitis hast.
Eine Schwester schnauzt mich an. In deinen Augen bin ich der beste Pfleger, den du dir wünschen könntest. Bestimmt lügst du, das können Junkies gut, hat man mir mal gesagt. Schutzreflex. Bloß nicht mit dem Mann verscherzen, der dir zugeteilt wurde. Ist OK. Danke, dass du deine Brüste verdeckst, nachdem ich dich aus deinen Klamotten geschnitten habe. Selbst als Pflegekraft muss ich nicht alles sehen. Wird nicht lange dauern und die nächste Nadel küsst dir einen Abszess in den Arm. Deine Krankengeschichte lässt das vermuten.
Akt 2
Deinen Schmerz will ich nicht fühlen. Du trittst mir zu fordernd auf. Mein Beruf ist es, dir eine Dienstleistung zu erbringen, ich weiß. Wirkt mir zu frech, wie kühl und trocken du von deiner 25-jährigen Sucht erzählst und währenddessen ein Entzugsprogramm missbrauchst, um noch besser high zu werden. Zu deiner Hepatitis schweigst du. Als man dich danach fragt, verneinst du sogar. Ein Arztbrief verrät dich. Ist OK. Deine Privatsphäre. Dein infektiöses Blut, dass überall hintropft.
Ödematöse Beine verlangen eine Hochlagerung. Bringe dir sofort was, sage ich. Ups, vergessen. Fällt mir auf dem Weg zum Bus ein. Meine seichte Rache ist es, nicht zurückzugehen. Genügend andere Schüler da, die du sicher schon befehligt hast. Wenn dich die Nadel bislang nicht töten konnte, werden es deine Beinödeme erst recht nicht.
Akt 3
Niemand erzählt etwas von MRSA oder 3MRGN, als die Rettungssanitäter dich bringen. Alkohol- und Nikotinabusus ist dir schon von weitem anzusehen. In deiner Krankenakte wird mir das bestätigt und ein paar Erklärungen dafür geliefert, warum dein Körper so aussieht, wie er aussieht. Man merkt sofort, du redest gern und viel. Zu den Dingen, die deine Mitmenschen gefährden könnten, schweigst du. Ich erlaube mir nicht zu denken, dass du es vielleicht nicht besser weißt. Zu oft warst du schon in einem Krankenhaus.
Ob ich dich an den Bettrand setzen könnte, fragst du. Mir ist nicht wohl bei der Sache, du bist in deiner Mobilität zu eingeschränkt. Eine andere Schwester hätte das schon mit dir gemacht, das ginge in Ordnung. En bloc bringe ich dich in Sitzposition. Ich hätte schauen müssen, ob du auch wirklich sicheren Halt hast. Stattdessen frage ich dich nur. Du möchtest einen Hocker neben dich gestellt haben, damit du an die Urinflasche kommst. Du versicherst mir, alles sei in Ordnung, kurz bevor ich Schutzkittel, Handschuhe, Kopfhaube und Mundschutz entsorge. Da fällt dir ein, dass du das Kopfteil deines Bettes gerne tiefer hättest. Funktioniert nicht. Ein Koffer blockiert den Weg und ich möchte mich nicht nochmal neu vermummen. Die nächste Pflegekraft soll’s richten. Noch zehn Minuten, bis zum Schichtende und meinem Ende des Praxisblocks. Ich bin einfach nur erschöpft, weil ich meinem eigenen Anspruch nicht entsprechen kann.
Ein dumpfer Schlag ist zu hören. Ich reagiere nicht und frage mich gerade, warum mich dieses Geräusch nicht wachrüttelte. Zu sehr abgelenkt war ich von dem Rauschen und Treiben der Station, das mit dem Zuwachs an Patienten immer mehr anschwoll. Du liegst da, mit entblößtem Unterleib, entblößten chronischen Wunden. Liegst da wie tot. Kein Laut von dir. Kein Hilferuf in den langen Sekunden, die verstrichen, bis eine junge Assistenzärztin auf das Geräusch deines Aufpralls aufmerksam machte und so tat, als wolle sie aufstehen und nachsehen, bis sie sah, das sich schon genügend andere auf den Weg machten.
Deine Stirn fügte sich der Kompromisslosigkeit des Bodens und nahm die unbarmherzige Tiefe einer möglichen Knochenfraktur auf. Zu viert hoben wir dich zurück ins Bett. So leicht du warst, so schwer stand eine großflächige Blutlache plötzlich im stillen Fokus aller, in der dein Gesicht zuvor gebettet und gebadet lag. Du redest immer noch nicht. Erst als dir Fragen gestellt werden. Du seist ausgerutscht. Kann mich nicht erinnern, ob dir irgendjemand die Frage nach Bewusstlosigkeit stellte. Wurde bestimmt gemacht. Ich wische das Blut und den in weitem Winkel ausgeleerten Urin weg. Am Unterarm eines Arztes klebt Blut. Ohne ihn vorzuwarnen, wische ich es mit weg. Er schaut mich verduzt an – „Wo kommt das denn her? Ich hab doch bloß …“ – und bedankt sich.
Beiläufig erfährt man von einem kleinen Mädchen, dass du Hepatitis hast (ein Danke an den Bundesfreiwilligendienst). Die zuständige Schwester sagt nur „Echt?“, aber informiert sich nicht weiter dazu. Ich schaue die Krankenakte genauer an. Die chronisch persistierte Hepatitis ist nicht gerade prominent beschrieben. An den wichtigen Punkten im System ist sie gar nicht erst vermerkt. Nur um sicherzugehen, weise ich die Schwester darauf hin. Die Information verändert etwas in ihrem Gesichtsausdruck und man kann Gedanken in ihrem Kopf fallen sehen. Ich verabschiede mich, nicht ohne meine Arme in brennendem Desinfektionsmittel zu waschen. Es erinnert mich an eine kleine Wunde, die ich mir aus völliger Zerstreutheit zu Dienstbeginn am Finger zuzog, als ich mit dem BUFDI-Mädchen Dienstkleidung sortierte, weil alle anderen Schüler sich zu fein dafür waren. Daran liest man meinen geringen Status ab. Meine Versuche, aus dieser Opferrolle auszubrechen, wurden geschickt abgewehrt. Profis am Werk.
Meine Empfindungen als Aktfotografie
War ich ein Profi am Werk? Definitiv nicht. Ich bin Schüler. Aber war ich wenigstens ein professioneller Schüler? Auch nicht. Der Kontakt zu diesen Patienten legte meine Unreife frei. Ich war vorurteilsbehaftet und ließ mich von Gefühlen leiten, statt rational zu bleiben, wo es angebracht gewesen wäre.
In der schulischen Ausbildung der Krankenpflege wird einem pausenlos die Haltung vermittelt, dass Patienten nichts für ihren Zustand könnten. Adipöse sind nicht einfach so adipös. Heroinabhängige sind nicht einfach so abhängig. Auf viele mag das zutreffen, doch nicht auf alle. Raubbau an Körper und Seele macht ja Spaß.
Ich habe Patienten kennengelernt, die Konsequenzen langsam auf sich zukommen sahen und nichts dagegen unternahmen. Patienten, die ihren Zustand selbst über viele Jahre ausbrüteten. Sämtliche Warnschüsse wurden ignoriert, sogar als die Kugeln immer näher einschlugen, bis sie Lunge, Herz und Hirn zerfetzten. Ist schon eigenartig, wie man vor einem echten Kugelhagel flüchten würde, Krankheiten aber die Tür weit offen lässt. Handhabt meine Familie nicht anders, z.B. mein Vater, der sein Muttermal im Gesicht nicht auf Hautkrebs kontrollieren lassen will. Was man nicht weiß, hat man nicht, bis es einem das Wissen über sein Vorhandensein aufzwingt.
Sollte dieses Verhalten der Patienten negative Auswirkungen auf meine Arbeit haben? Sollte es nicht. Und dennoch sind mir manche Patienten einfach nicht sympathisch und meine Schritte werden nicht schneller, wenn sie die Rufglocke betätigen.
Am unsympathischsten sind mir die, die ansteckende Krankheiten nicht offenlegen und damit Kollegen, mich und damit auch andere Patienten gefährden. Das Fließbandverfahren einer Notfallambulanz benötigt die Ehrlichkeit der Patienten und einen guten Informationsfluss zwischen Sanitätern, Pflegekräften, Ärzten, Angehörigen und wem sonst noch. Man will nicht jeden Patienten als potentielle Gefahrenquelle ansehen, muss es aber scheinbar. Sollte ich jemals meine Großmutter mit einer Krankheit aus der Arbeit anstecken und sie schwer darunter leiden, wenn nicht gar versterben, werde ich alle in Frage kommenden Patienten mit einer Bettpfanne totprügeln. Werde ich nicht. Aber ich würde mir bis ans Lebensende größte Vorwürfe machen, mich eventuell sogar deswegen umbringen. Oma ist noch fit, körperlich aktiv, ziemlich helle für ihr Alter. 89 Jahre (ab August) lassen sich jedoch nicht wegreden. Nächstes Jahr wird sie 90. Sie ist älter als diese drei von mir beschriebenen Patienten jemals sein werden.
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